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Als die Bitte an mich herangetragen worden ist, ei- nen Beitrag über das brandaktuelle Thema »Zusammen- stehen und Zusammenhalten« zu verfassen, habe ich mich spontan an die Geschichte »Die sieben Stäbe« aus der Schulzeit erinnert: Ein Vater hatte sieben Söhne, die öfters miteinander uneins wurden. Über dem Zanken und Streiten ver- säumten sie die Arbeit. Ja, einige böse Menschen hatten im Sinne, sich diese Uneinigkeit zunutze zu machen, um die Söhne nach dem Tode des Vaters um ihren Erbteil zu bringen. Eines Tages ließ er alle sieben Söhne zusammenkommen, legte ihnen sie- ben Stäbe vor, die fest zusammengebunden waren, und sagte: »Demjenigen von euch, der dieses Bün- del Stäbe entzweibricht, zahle ich hundert große Taler bar.« Einer nach dem anderen strengte alle seine Kräfte an, und jeder sagte nach langem ver- geblichem Bemühen: »Es ist gar nicht möglich.« »Und doch«, sagte der Vater, »ist nichts leichter.« Er löste das Bündel auf und zerbrach einen Stab nach dem anderen mit geringer Mühe. »Ei«, riefen die Söhne, »so ist es freilich leicht, so könnte es ein kleiner Knabe!« Der Vater aber sprach: »Wie es mit diesen Stäben ist, so ist es mit euch. Solange ihr fest zusammenhaltet, werdet ihr bestehen, und nie- mand wird euch überwältigen können. Wird aber das Band der Eintracht, das euch verbinden soll, aufgelöst, so geht es euch wie den Stäben, die hier zerbrochen auf dem Boden umherliegen.« Christoph von Schmid Niemand von uns, der in der Silvesternacht 2019/20 in der Familie oder im Freundeskreis auf das neue Jahr angestoßen hat, konnte ahnen, dass das Jahr jede und jeden von uns so treffen und vor ungeahnte Herausforde- rungen stellen würde, über einen zunächst nicht abseh- bar langen Zeitraum zusammenzustehen und zusammen- zuhalten. Denn niemand konnte voraussehen, dass die Weltgemeinschaft von einer Krise heimgesucht würde, wie es sie seit Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren nicht mehr gegeben hat. Niemand von uns war im Früh- jahr auf das SARS-CoV-2 und die sich rasant ausbreitende Corona-Pandemie vorbereitet. Verantwortliche in Politik und im Gesundheitssektor, in den staatlichen Instituti- onen und der Zivilgesellschaft, in Kirche und Kultur… – Wegen eines mikroskopisch kleinen Virus mussten sie lernen »auf Sicht zu fahren«. Wegen einer »schlechten Nachricht – eingewickelt in Protein«, wie der Nobelpreis- träger Peter Medawar (1914–1987) Viren treffend knapp beschrieben hat. Unbekannt, unberechenbar, für die einen relativ harmlos, für nicht wenige Menschen aber lebensgefährlich und tödlich. Die Bilder aus Bergamo und Straßburg, aus Madrid und London ... haben sich ins individuelle und kollektive Bewusstsein eingeprägt als handlungsleitende Erinnerung für die Gestaltung eines noch unbekannten Morgen. So wird das Jahr 2020 als schwieriges, herausforderndes und die Zukunft in eine andere Richtung lenkendes Jahr in die Geschichte des relativ jungen 21. Jahrhunderts eingehen. Mit dem Lockdown kamen mancherorts »ar- chaisch-urmenschliche« Muster zum Vorschein, Verhal- tensweisen, die wir aus längst vergangenen Zeiten in Erinnerung hatten. In gutem Glauben waren wir davon ausgegangen, sie im Zuge der Humanisierung überwun- den zu haben. Unsere Antwort auf das Virus in 2020: Grenzen schließen, sich zurückziehen, vulnerable Perso- nengruppen von ihren Angehörigen isolieren. Denken wir an die Grenzschließungen europäischer Staaten mitten im Schengen-Raum; das Abriegeln von Krankenhäusern, Altenheimen und Behinderteneinrichtungen – aus Sor- ge vor der tödlichen Gefahr für verwundbare Menschen und Personengruppen. Erinnert sei an die geschlossenen Kitas und Schulen, und in deren Folge, an extrem stres- sige Wochen für Eltern und Familien, die in ihrem (nicht selten beengten) Wohnraum miteinander leben, lernen und arbeiten mussten. Denken wir an die vielfältigen Folgen der Vereinzelung für Kinder und Erwachsene, Jugendliche und alte Menschen, für den Kulturbereich und den Sport, für Kultur und Kirche… Corona hat die Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit der Gesellschaft und ihrer Institutionen, der Menschen und ihren Zusam- menhalt wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht und an der Oberfläche abgebildet. Die negativen Folgen, Zusammenstehen und Zusammenhalten in unsicherer Zeit SEITE DER SEELSORGE SEITE DER SEELSORGE 6
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