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Ob ein absoluter Shutdown auch künftig durchsetzbar ist, wird sich zeigen. Vielleicht müssen wir lernen, abhängig vom (regionalen) Infektionsgeschehen und unter der Berücksichti- gung aller Möglichkeiten zur Pandemiebekämpfung (in Bezug auf Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen) differenzierter zu denken und zu handeln, quasi mit dem Skalpell anstatt mit dem Hammer. Theoretisch ist aus infektionsepidemiologischer Sicht bei einem Stoppen des öffentlichen Lebens über zweimal 14 Tage, also der doppelten Inkubationszeit, mit einem Maxi- maleffekt zu rechnen. Wie schätzen Sie die Entwicklung im Hinblick auf die kommenden Wochen ein? Bis zum Sommer werden die Impfquoten deutlich steigen. Da- durch, dass auch bei den niedergelassenen Ärzten die entspre- chend verfügbaren Impfstoffe verimpft werden, können jetzt mehr Menschen viel schneller ein Impfangebot wahrnehmen. Das war bisher mit den Impfzentren und dem verfügbaren Impfstoff deutlich eingeschränkt. Insofern bin ich optimis- tisch, dass wir entsprechende Lockerungsmaßnahmen bekom- men werden. Haben Sie sich denn schon impfen lassen? Ja. Viele Menschen scheuen eine Impfung, nicht zuletzt auch den möglichen Folgen einer Impfung. – Ist eine Impfung alternativlos? Alternativlos vielleicht nicht, aber es ist vernünftig und dringend notwendig, dass wir diesen Fortschritt nutzen, um möglichst viele Menschen schnell mit einer Impfung vor ei- nem schweren Verlauf einer Covid-19-Infektion zu schützen. Es kommt jetzt darauf an, dass wir schnell den Zugang zu ei- ner Impfung erleichtern. Der vorteilhafte Nutzen einer Imp- fung überwiegt meiner Meinung nach die möglichen Risiken bei weitem. Wir haben in einer Einrichtung die Erfahrung gemacht, dass – obwohl alle geimpft waren – ein Covid-19-Aus- bruch eintrat. Kann das sein? Eine Infektion an Covid-19 ist zwar auch für geimpfte Men- schen immer noch möglich. Dennoch ist die Impfung wichtig. Es gilt alles zu tun, um Menschen vor schweren Verlaufsformen zu bewahren und noch mehr: zu verhindern, dass sie womög- lich sterben. Kommt es auf einen speziellen Impfstoff an? Im Grunde nicht. Es geht jetzt darum, dass die Möglichkeiten eines Impfangebotes genutzt werden. Abhängig von den Er- fahrungen, die wir nun in den kommenden Monaten machen, kann es sein, dass wir uns künftig regelmäßig einmal im Jahr impfen lassen müssen, also so, wie bei der jährlichen Grippe- schutzimpfung auch. In der öffentlichen Diskussion war der Impfstoff AstraZeneca Kritik ausgesetzt. Wie sehen Sie das? Das ist richtig und ich bin darüber nicht glücklich, denn es wird nun viel an Kraftanstrengung nötig sein, um das verlo- rengegangene Vertrauen in diesen Impfstoff wiederherzustel- len. Impfreaktionen sind zunächst keine negativ einzustufende Folge. Gibt der Körper eine entsprechende Immunantwort, dann kann der Geimpfte davon ausgehen, dass der gewünschte Wirkungseffekt eingetreten ist. Das ist, je nach Person, sicher nicht immer angenehm, jedoch im Vergleich zu einer schwer verlaufenden COVID-19-Erkrankung deutlich erträglicher. In der Regel werden bei AstraZeneca die Symptome nach der Erstimpfung beobachtet und verschwinden zumeist nach 24 Stunden wieder. Geimpfte, die ihre Erstimpfung mit AstraZeneca hatten, bekommen derzeit das Angebot für die Zweitimpfung zwischen AstraZeneca oder mit Biontech zu wählen. Lässt sich sagen, welche Variante vorzuziehen ist? Ursprünglich war aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit von COVID-19-Impfstoffen und der notwendigen Priorisierung kei- ne »Wahlmöglichkeit« gegeben. Jetzt hängt die Frage bis zu einem gewissen Grad vom Alter ab. Die STIKO empfiehlt ab 60 Jahren unverändert die Zweitimpfung mit AstraZeneca. Bei den unter 60-Jährigen dagegen soll vorrangig mit mRNA-Impfstoff geimpft werden. Generell ist allerdings eine Entscheidung nach ärztlichem Ermessen für die erste oder zweite Impfstoffdosis mit der COVID-19-Vaccine Vaxzevria von AstraZeneca, die bei individueller Risikoakzeptanz nach sorgfältiger Aufklärung ge- troffen wird, auch unabhängig vom Alter möglich. Bislang lie- gen allerdings noch keine Daten zum Risiko der Zweitimpfung mit unterschiedlichen Impfstoffen vor. In jüngerer Zeit ist immer wieder von Folgesymptomen im Nachgang zu einer überstandenen Covid-19-Infek- tion zu hören. Womit genau haben die Patienten zu tun? In der Tat beobachten wir aufmerksam diese Entwicklung. Am UKS haben wir eine ambulante Anlaufstelle für Post- oder auch Long-Covid-Patienten eingerichtet. Es handelt sich bei der vo- rangegangenen Covid-19-Erkrankung meist um einen symp tomatischen, primären Infektionsverlauf. Viele der Patienten wurden in der akuten Covid-19-Phase intensivpflichtig behan- delt. Die Symptomkomplexe sind weiter zu differenzieren. Zu diesen gehören Atembeschwerden, Wortfindungsstörungen, Müdigkeit, Schwindel und weitere internistische Erscheinungs- formen. Die Forschung steht hier noch ganz am Anfang und eine wissenschaftliche Begleitung findet gerade erst statt. Auch das ist ein Grund, um sich impfen zu lassen, denn Vor- beugen ist besser als Heilen. Besteht aus Ihrer Sicht die greifbare Hoffnung, dass wir in absehbarer Zukunft schon so weit sind, dass es ein Medikament zur Behandlung von Covid-19-Erkrankun- gen gibt? Weltweit wird mit Hochdruck von vielen Forschern größte An- strengung auf die Entwicklung von wirksamen Medikamenten gesetzt. Es gibt bereits vielversprechende Ansätze z. B. beim Einsatz von neutralisierenden Antikörperpräparaten. Insge- samt bin ich da sehr optimistisch. Interview: Dr. Claudia Gerstenmaier, Foto: privat UNSER CORONA-ALLTAG Spectrum 1/2021 17
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